Von Eric Pfeil, 06.11.08, 16:34h
International wird die Popband Tokio Hotel mit Ruhm und Ehre überschüttet, hierzulande ernten die vier Jungs nur Häme. Dabei geht es nicht um die Musik, sondern um geballte Vorurteile. Doch nicht nur der Erfolg gibt der Boyband recht.
Dass das Popgeschäft böse und schnelllebig ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Doch selbst hier gibt es so etwas wie die Gerechtigkeit der Zeit: Irgendwann, wenn einmal jeder dumme Witz gemacht wurde, besteht die Chance, dass der Blick frei wird und man vielleicht kurz die Wahrheit durchs Bild huschen sieht. Ein ungeschriebenes Gesetz im Pop-Betrieb besagt: Je größer der Erfolg, desto einfältiger und hämischer mitunter die Kritik - gerade hierzulande.
Im Falle von Tokio Hotel, Deutschlands einfachster Zielscheibe für humoristische Grobmotoriker, bündelte sich von Anfang an alles, worüber man in diesem Land gern den Mülleimer ausleert: Kritik an Tokio Hotel und ihrem androgyn auftretenden Sänger Bill Kaulitz war meistenteils reine Häme. Und es ging weniger um Häme gegenüber der Musik, als vielmehr um gebündelte Häme gegenüber der "dummen Jugend", gegenüber sexueller Uneindeutigkeit, gegenüber Ostdeutschland und natürlich gegenüber der bösen Musikindustrie, die junge Menschen gefährliche Träume suggeriert und hernach versklavt und aussaugt.
Die meisten Angriffe gegen die Band folgten mindestens einem dieser Prinzipien. Wer auch nur irgendetwas gegen Jugendliche, Androgynität, Ostdeutsche oder eskapistische Popmusik hatte, dem mussten Tokio Hotel ein gern genommener Grund für Schlechte-Laune-Reflexe sein. Während aber alles munter - und mindestens so publikumssehnsüchtig wie die Band selbst - auf Tokio Hotel eindrosch und sich an experimentellen Frisuren und Ausfällen vor Interview-Mikrofonen delektierte, sind die vermeintlichen One-Hit-Wonder zum erfolgreichsten deutschen Pop-Act seit Ewigkeiten geworden.
Und das in einem Land, in dem Popstars entweder Vertreter des gesunden Menschenverstands, Vollprolls oder Aufziehpuppen sein müssen. Soviel hochtoupiertes Geheimnis wie bei Tokio Hotel gab es jedenfalls noch nie. Der scheinbar seriöseste Vorwurf gegenüber Tokio Hotel, die an diesem Donnerstag für zwei MTV European Music Awards in den Kategorien "Best Act Ever" und "Headliner" nominiert sind, ist wohl jener, demzufolge die Band ein von Produzenten am Reißbrett entworfenes Kunstprodukt ist: ein bizarrer Vorwurf in einem Geschäft, das seit den Fünfziger Jahren mit zunehmender Präzision Träume und Sehnsüchte bedient und schon immer mit Verführung und Weltflucht handelte.
In diesem Zusammenhang - und gerade in Abgrenzung zu allen gleichförmigen Bohlen-Kreationen - sind Tokio Hotel der seltene Fall eines nachgerade perfekten, international konkurrenzfähigen Deutschpop-Produkts. Vor allem deshalb, weil sich in ihm auf einmalige Weise Authentizität und cleveres Marketing verbinden.
Die Karriere von Tokio Hotel begann im Jahr 2003. Bill Kaulitz, damals 13, war bei einer "Star Search"-Sendung mit einer "It's Raining Men"-Darbietung durchgefallen, hatte aber durchblicken lassen, daheim in Magdeburg in einer Band namens Devilish zu spielen. Der auf Kindermusik spezialisierte Produzent Peter Hoffmann spürte das Potenzial und sah sich die Band in einem Club an.
Schon damals war Kaulitz' Verkleidung irgendwo zwischen Manga-Figur und Fantasy angesiedelt. Hoffmann und seine Mitproduzenten (darunter der Ex-Boyband-Sänger und heutige Tokio Hotel-Co-Texter David Jost) spürten sofort, dass sich das Talent der vier Jungs wie eine Rohmasse durch gezieltes Training in ein Erfolgsprodukt umwandeln ließe. Nachdem ein erster Plattenvertrag geplatzt war, unterschrieben Hoffmann und Partner bei Universal und holten das Teenie-Blatt "Bravo" als wichtigen Unterstützer mit ins Boot.
"Durch den Monsun", die erste Single, schlug sofort ein und traf auf einen Markt, der aufgrund des Erfolgs deutschsprachiger Pop-Musik eine Teenie-kompatible Variante begierig aufsog. Auch hier zeigt sich wieder die Qualität von Tokio Hotel: Ihre Songs - um kein Pathos, keinen Weltschmerz und keine große Geste verlegen - machen aus der Pubertät ein cleveres Pop-Musical - glaubwürdig und verkitscht überhöht zugleich.
Doch ohne Frontmann Bill Kaulitz - diesen 19Jährigen, der mehr Glam und Dramatik im kleinen Finger hat als die gesamte biedere Konkurrenz - wäre es wohl alles nichts geworden. Inzwischen - nach über 5 Millionen verkauften Platten, ausverkauften Tourneen und unzähligen Preisen - hebt die Band längst auch international ab: Sie waren in den französischen Top20, spielten in Russland vor ausverkauften Hallen, erreichten Platz 1 der mexikanischen Radiocharts und schafften es mit ihrem ersten englischsprachigen Album sogar in die amerikanischen Top40 - Ende offen. Deutschland mag ruhig weiterlachen. Immer noch besser man lacht über Tokio Hotel als über das andere konkurrenzlose deutsche Erfolgsprodukt: Mario Barth.
Source http://www.ksta.de/html/artikel/1218660792755.shtml
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