Mittwoch, 19. November 2008

Euphorie bis Venezuela

Band aus Magdeburg ist zum Exportschlager geworden - Selbst Experten staunen
VON ANTONIE STÄDTER, 17.11.08, 18:48h, aktualisiert 17.11.08, 18:53h



HALLE/MZ. Das mit Tokio Hotel könnte etwas ganz Großes werden. Es war an einem Abend im April 2007, als Melanie Fürste diesen Gedanken hatte. Da standen die vier Jungs aus Magdeburg in der wichtigsten Konzerthalle Frankreichs, im Pariser Zénith, vor tausenden euphorisierten Fans. "Als die französischen Mädchen 'Durch den Monsun' auf Deutsch mitgeschrien haben, gab es für mich keinen Zweifel mehr", so Fürste. Als Pressemanagerin bei Universal Music, der weltweit größten Plattenfirma, betreut sie viele Bands. So etwas aber hatte sie noch nicht erlebt. "Das hatte sich verselbständigt und war nicht mehr zu stoppen."

Aus den Vier von Tokio Hotel waren internationale echte Stars geworden: Israelische Fans sammelten 5 000 Unterschriften, damit Bill, Tom, Georg und Gustav auch in Tel Aviv auftreten, die New York Times berichtete über sie und wie nebenbei wurden die Vier mit Musikpreisen überhäuft. Ohne Ende, bis heute: Jüngst erhielten sie den MTV Europe Music Award.

"Tokio Hotel ist das größte Phänomen, das die Branche derzeit in Deutschland hat", sagt Hubert Wandjo, Professor für Musikbusiness an der Pop-Akademie Baden-Württemberg. Ein Phänomen, das international funktioniert: In insgesamt 18 Ländern gibt es offizielle Tokio-Hotel-Fanclubs. Sogar in Venezuela: Dieser wurde im Oktober bei den MTV Latino Awards als "Bester Fanclub" ausgezeichnet.

Mehrere Goethe-Institute freuen sich über das gewachsene Interesse an der deutschen Sprache. Denn obwohl es auch ein englischsprachiges Album gibt: "Bei den Konzerten im Ausland fordern die Fans stets, dass mindestens ein Song auf Deutsch gesungen wird", so Melanie Fürste. "Wenn deutsche Künstler im Ausland erfolgreich sind, dann oft gerade wenn sie deutsch singen", bestätigt Hubert Wandjo.

Wie aber ist der weltweite Erfolg der einstigen Provinz-Band Tokio Hotel zudem zu erklären? "Wenn ein Konzern wie Universal erst einmal seine internationale Maschinerie anwirft, gibt es wenige weiße Flecken, die übrig bleiben", sagt der Musikbusiness-Experte. Dann wird das Phänomen exportiert: abgestimmt, in welchem Land welche Single erscheint, wo und wann die Jungs Promotion machen und auf Tour gehen. Als erste deutsche Band bekam Tokio Hotel bei Universal den "Priority Status": In jedem Land, in dem das Label aktiv ist, muss sie vermarktet werden.

Rund um die Welt unterwegs

"Diese Marketing-Maschinerie muss beständig gefüttert werden", erklärt Wandjo. Dafür braucht es Protagonisten, die bereit sind, sich auf viele Märkte und Kulturen einzustellen - und vor allem: ständig durch die Welt geschleust zu werden. Die vier Teenies scheinen da Profis zu sein. Fan-Kult sei aber nur bedingt steuerbar, sagt Wandjo. Solche Prozesse würden schon gar nicht in Gang kommen, wenn die Qualität der Lieder und die Attraktivität der Band nicht stimmten. Entscheidend ist, betont er: USP. Die Abkürzung für "Unique Selling Proposition" umschreibt in der Marketingsprache das Alleinstellungsmerkmal eines Angebots.

Die Jungs von Tokio Hotel bilden eben keine Boygroup im üblichen Sinne - dafür ist ihr Äußeres zu speziell, sind ihre Lieder zu rockig. Doch sie haben ein ähnliches Publikum. "Sie passen haargenau in das Anforderungsprofil einer sehr jungen Zielgruppe", so Wandjo. Meist sind das weibliche Fans von zwölf bis 19 Jahren. Daneben bedient sich Tokio Hotel einer Strategie, die schon bei Take That und den Backstreet Boys griff: Den Bandmitgliedern werden feste Rollen zugeteilt.

Frontmann Bill mit seiner überdimensionierten Igelfrisur, mit schwarz geschminkten Augen und lackierten Fingernägeln verkörpert für die Fans ein androgynes Zauberwesen. Die Emotionalität, mit der er Lieder über die üblichen Pubertätsthemen - Liebe, Wut, Zukunftsangst - singt, fasziniert. "So einen Frontmann wie Bill findet man, wenn überhaupt, nur alle paar Jahrzehnte", hat ihr Band-Manager David Jost einmal gesagt.

Doch auch Bills drei Kollegen tragen zum Tokio-Hotel-Kult bei. Da wäre sein Zwillingsbruder Tom, der in Baggy-Pants den Hip-Hopper gibt und gern mit Frauengeschichten prahlt: "Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht an Liebe. Außer an die Liebe für eine Nacht" - solche Sprüche sind nicht unüblich für den 19-jährigen Gitarristen. "Er ist so süß!", finden die vielen Verehrerinnen im Internet. Und dann gibt es noch die zwei "G"s, Gustav und Georg, die im Hintergrund bleiben und von manchem Fan gerade deshalb vergöttert werden. So sehr, dass es Seiten gibt wie www.georg-gustav.de.vu, mit der Jugendmagazine wie die "Bravo" aufgefordert werden, mehr über die beiden zu bringen.

Im Netz kursieren aber nicht nur Schmacht-Beiträge über die Jungstars. Tokio-Hotel-Hasser liefern sich mit den Fans in Diskussionsforen längst erbitterte Wortgefechte. "Ich finde Tokio Hotel Scheiße. Sie machen nur unseren Punk lächerlich", schreibt einer. "Ein sicheres Zeichen, dass die Band interessant ist", kommentiert Wandjo.

Auflauf in den USA

Das Internet hat auch den internationalen Boom der Gruppe befördert, ist er sicher: "In den USA gab es schon einen Fan-Auflauf, als sie mit ihrer Promotion-Tour erst begonnen haben." Seit Anfang des Jahres bemüht man sich nämlich, auch den amerikanischen Musikmarkt zu erobern - woran Künstler wie Robbie Williams vorher gescheitert sind. Anfang Dezember gibt es wieder Konzerte in den USA. Ob die vier Magdeburger auch dort den Durchbruch schaffen werden? Musikbusiness-Experte Wandjo kann es sich gut vorstellen.


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